„Giselle“ gilt als das Meisterwerk des Romantischen Balletts und gehört neben „Schwanensee“ und „Nussknacker“ zu den erfolgreichsten Balletten überhaupt. Am Freitag, den 8. März 2024, haben wir in der Staatsoper Unter den Linden den Grund dafür verstanden.
„Giselle“ ist ein Ballett in zwei Akten nach einem Libretto von Jules-Henri Vernoy de Saint-Georges und Théophile Gautier und wurde 1841 an der Pariser Oper uraufgeführt.
Patrice Bart ist für die aktuelle Choreographie und Inszenierung an der Staatsoper Unter den Linden verantwortlich und hält sich dabei an die ursprüngliche Choreografie von Jules Perrot und Jean Coralli zur Musik von Adolphe Adam.
Das Meisterwerk des Romantischen Balletts beruht auf der Sage der Wilis aus „De l’Allemagne“ (1835) von Heinrich Heine und handelt von dem Bauernmädchen Giselle, das gerne tanzt und sich in den adligen Albrecht, der sich als Bauer ausgibt, verliebt. Dieser wirbt um sie und bekundet ihr seine Verliebtheit. Doch Albrecht verschweigt nicht nur seinen wahren Stand, sondern auch die Tatsache, dass er einer anderen Frau versprochen ist.
Als Giselle die Wahrheit erfährt, wird sie wahnsinnig und stirbt an gebrochenem Herzen. Nach ihrem Tod wird sie zu einer Wili, einem Elfenwesen, das von einem Mann verraten wurde und vor ihrer Hochzeit gestorben ist. Von nun an führt sie das Schicksal einer Untoten, die Männer in der Nacht zum Tanzen verführt, bis sie vor Entkräftung sterben.
Eines Nachts kommt auch Albrecht an Giselles Grab. Droht ihm das gleiche Schicksal wie den anderen Männern? Oder ist Liebe stärker als Rache?
So eine bedeutende Rolle muss von einer bedeutenden Balletttänzerin vertanzt werden, daher stand es auch für mich außer Frage, wer Giselle tanzen sollte: Iana Salenko. Iana Salenko ist nicht nur erste Solotänzerin des Staatsballetts Berlin, sondern wird auch am 17. März 2024 vollkommen zurecht mit dem Ehrentitel „Berliner Kammertänzerin“ geehrt.
Salenko gelang es in „Giselle“ perfekt, die unterschiedlichen Facetten der romantischen Figur tänzerisch umzusetzen. Im ersten Akt ist Giselle eine lebensfrohe und optimistische junge Frau, die an die wahre Liebe glaubt. Sie liebt es, unbeschwert zu tanzen und ignoriert damit die Warnungen ihrer weisen Mutter. Mit vielen leichtfüßigen Sprüngen und Drehungen unterstrich Salenko die Lebensfreude ihrer Rolle. Als Giselle klar wird, dass Albrecht sie belogen hatte und einer anderen Frau versprochen ist, verliert sie den Verstand. Salenko spielte diese Szene mit so viel Leidenschaft und Überzeugung, dass es mich ebenfalls innerlich zerrissen hat.
Die kindliche Unbeschwertheit und Naivität der Giselle enden endgültig im zweiten Akt, wenn Giselle zu einer gefühlskalten Elfe wird. Doch Giselle durchbricht diese Kälte aus Liebe zu Albrecht und widersetzt sich damit der Königin der Wilis. Mit hingebungsvollen Sprüngen, Fouettés und Arabesken überzeugte Salenko mit weiteren tänzerischen Elementen im zweiten Akt. Eine perfekte Besetzung!
Genauso wie Giselle eine Entwicklung im Ballett durchmacht, entwickelt sich auch der Charakter Albrecht. Lebensbejahend und positiv ist Albrecht im ersten Akt und verführt die unschuldige Giselle. Kalle Wigle gab an dem Abend in der Rolle des adligen Albrechts sein fantastisches Rollendebüt. Mit vielen Luftküssen und großen Sprüngen verdeutlichte er Albrechts gedankenloses Werben um Giselle. Doch im zweiten Akt präsentierte Wigle dem Publikum einen anderen Albrecht, einen von Schuld geplagten jungen Mann, der seine Taten zutiefst bereut. Dieser Wandel spiegelte sich auch in seinen tänzerischen Bewegungen wider.
Eine absolute tänzerische Glanzleistung an dem Abend bot für mich auch Elisa Carrillo Cabrera. Elisa Carrillo Cabrera tanzte phänomenal in der Rolle der strengen und unnachgiebigen Myrtha, der Königin der Wilis. Sie interpretierte die Rolle mit einem emotionslosen Gesicht und einer bedrohlichen Gestik und demonstrierte eine kalte Herrscherin auf der Bühne. Elisa Carrillo Cabrera tanzte eine schwierige Choreografie auf Zehenspitzen und war auch tänzerisch die uneingeschränkte Königin.
Ebenfalls authentisch war Erick Swolkin in seiner Interpretation des Wildhüters Hilarion. Wahrhaftig in Giselle verliebt möchte er nur das Richtige tun. Doch durch seine Aufdeckung von Albrechts wahrer Herkunft ist er an Giselles Zerstörung mitbeteiligt und geht daran zugrunde. Der von Schuld geplagte Hilarion besucht Giselles Grab im Wald und wird ein weiteres Opfer der Wilis.
Wer mich an dem Abend emotional ebenfalls zutiefst berührt hat, war die Rolle der Berthe, Giselles Mutter (Martina Böckmann). Als sich Berthe auf den Körper ihrer toten Tochter stürzte, kamen mir viele Tränen.
Marius Stravinsky und das Orchester der Staatskapelle Berlin bewegten mit der einprägsamen und gefühlsbetonten Musik von Adolphe Adam das Publikum und transportierten dadurch die Bilder und Gefühle der Romantik.
Patrice Barts Choreografie und Inszenierung sind beeindruckend und herausragend. Wie schon in der ursprünglichen Choreographie von Jean Coralli und Jules Perrot unterscheiden sich die beiden Akte in der Choreografie, in der Farbgestaltung und in der Atmosphäre sehr stark voneinander.
Der erste Akt wirkt durch das Weinfest und die frisch Verliebten fröhlich und leicht. Die Protagonisten erfreuen sich ihres Lebens und tanzen heiter und beschwingt miteinander. Diese Freude wird durch die Wahl der warmen Farben und die vielen Blumen und die vielen Luftküsse zwischen den Protagonisten unterstrichen. Peter Farmer hat mit dem Entwurf der unterschiedlichen Kostüme und Farben die Stimmung des ersten und zweiten Aktes sehr gut eingefangen
Die Lebensfreude der Gesellschaft ist auch in der Choreografie sehr gut erkennbar und wird nicht nur durch den Pas de deux, die hohen Sprünge und schnellen Drehungen zwischen Giselle und Albrecht deutlich, sondern auch durch die gleichen Tanzelemente zwischen den Bauern.
Im 1. Akt gibt es sehr viel Pantomime als Form der darstellenden Kunst auf der Bühne. Dies habe ich so noch in keinem anderen Ballett erlebt.
Sehr viel Applaus gab es in dem ersten Akt für die 12 Takte: Iana Salenko hüpfte leichtfüßig über die gesamte Bühne auf dem gleichen Bein.
Der zweite Akt ist von dem „ballet blanc“ gekennzeichnet und wird deswegen „der weiße Akt“ genannt. Im Weiß tanzen die Wilis und wirken wie bedrohliche und mystische Geister. Die Wilis sind dazu verdammt, sich an den Männern für ihr trauriges Leben zu rächen und erscheinen als die Marionetten ihres Schicksals.
Im Corps de Ballet bewiesen die Tänzerinnen auf Zehenspitzen ihr ganzes Können und berührten die Zuschauer. Auch Wigle (Albrecht) und Salenko (Giselle) tanzten in einem Pas de deux im zweiten Akt wieder miteinander. Diesmal war das Tanzpaar nicht mehr freudig erregt, sondern zeigte eine körperliche Anspannung – passend zu der Geschichte im zweiten Akt. Eine Anspannung, die auch im Zuschauersaal spürbar war und sich nur in den vielen spontanen Bravorufen für die tänzerische Glanzleistung löste.
Mein Fazit: „Giselle“ gilt vollkommen zurecht als das Meisterwerk des Romantischen Balletts. Die Choreografie ist anspruchsvoll und wird von dem Tanzensemble grandios umgesetzt. Auch darstellerisch verlangt das Ballett durch die unterschiedlichen Stimmungen in den beiden Akten viel den Tänzern ab.
Jede kleinste (Tanz-)Rolle wurde sehr gut besetzt und zog das Publikum durch seine Präsenz und seinen Tanz in den Bann. Ein Must-See für alle Ballettliebhaber in der Staatsoper Unter den Linden!
Adresse: Staatsoper Unter den Linden
Unter den Linden 7
10117 Berlin
Weitere Informationen:
https://www.facebook.com/StaatsballettBerlin
https://www.staatsoper-berlin.de/de/veranstaltungen/giselle.10241/
Text © E. Günther
Fotos © Yan Revazov, Mariia Kulchytska und Admill Kuyler