Der Stellvertreter – das legendäre Theaterstück zu seinem 60. Jubiläum im Schlosspark Theater

Was bedeutet „Schuld“? Schuld bedeutet, dass man gegen moralische Werte und Normen verstoßen hat und jemandem mit seinem unsittlichen Verhalten Unrecht angetan hat. Aber bedeutet nicht auch „Schuld“, dass man es zugelassen hat, dass andere Unrecht begehen und man einfach weggeschaut und nichts gegen dieses Unrecht unternommen hat?!

Diesen Fragen geht das legendäre und in 28 Sprachen übersetzte Theaterstück „Der Stellvertreter“ von Rolf Hochhuth unter der Regie von Philip Tiedemann, das zu seinem 60. Jubiläum im Schlosspark Theater aufgeführt wird, nach.
Doch wovon handelt dieses Theaterstück, das auch ich am Samstag, den 24. November 2018, endlich im Schlosspark Theater gesehen habe:
Der junge Pater Riccardo besucht Berlin und erfährt von den unmeschlichen Verbrechen der Nazis gegen das jüdische Volk. Er ist schockiert davon, dass der Papst Pius XII. nichts gegen diese unzähligen Deportationen und Morde unternimmt, ist jedoch fest davon überzeugt, dass der Papst offiziell Protest gegen die Verbrechen des Nazi-Deutschlands erheben wird.
Im Vatikan angekommen muss aber der junge Pater feststellen, dass sowohl der Kardinal als auch der Papst sich nicht sonderlich um die Weltanschauung der Nazis sorgen und in ihrer Angst vor dem Kommunismus sich nicht gegen Hitler aussprechen möchten.
Tilmar Kuhn verkörpert perfekt den Jesuitenpater Riccardo Fontana. Dank dem grandiosen Schauspiel von Tilmar Kuhn nimmt das Publikum der Figur ihre Verzweiflung und ihr Ohnmachtsgefühl in jeder Minute ab, denn Pater Fontana ist die Stimme der Menschlichkeit, die nicht wegen des millionenfach vergossenen Blutes unschuldiger Menschen verstummen kann. Riccardo fühlt sich nicht der katholischen Kirche gegenüber verpflichtet, sondern nur Gott und der Barmherzigkeit gegenüber. Dafür riskiert er auch am Ende sein Leben, indem er sich den gelben Judenstern auf die Brust klebt, um für die Schuld der katholischen Kirche zu bezahlen.
Der junge Pater hat gleich mehrere Widersacher bei seinem Kampf für die gelebte Nächstenliebe: Zum einen ist da der Papst Pius XII., der kein Stellvertreter Gottes auf Erden ist, sondern die politischen und wirtschaftlichen Interessen der katholischen Kirche vertritt und dafür einen Pakt mit dem Teufel in der Gestalt Hitlers eingeht.
Georg Preusse spielt großartig den kalten und arroganten Papst, der in seiner Angst vor dem Kommunismus erstarrt, glaubt, dass er mit der Rettung weniger alles richtig macht und der am Ende seine Hände sprichwörtlich in Unschuld wäscht.
Martin Seifert als Kardinal zeigt auf eine sehr authentische Art und Weise das hässliche Gesicht der katholischen Oberhäupter, die nur auf ihr eigenes Wohl bedacht sind, die leidenden Menschen vergessen, Verzicht zwar predigen, aber selbst maßlos leben, indem sie Wein zu gerne trinken und gerne ihren Wohlstand zur Schau stellen.
Doch Riccardo steht nicht alleine und hat auch Menschen, die mit ihm für die gute Sache kämpfen. Und manchmal findet man das Gute auch in den Reihen des Bösen, wie zum Beispiel in der Figur des SS-Obersturmführers Kurt Gerstein – hervorragend von Oliver Nitsche dargestellt. Gerstein ist ein Doppelagent und Widerstandskämpfer, der sein Leben riskiert, um für das Gute und die christlichen Werte einzutreten. Er berichtet dem jungen Pater von den Deportationen und Massenvergasungen von Juden. Vom Papst Pius XII. erwartet er, dass dieser die Weltöffentlichkeit über die Gräueltaten der Nazis informiert.
Ein weiterer Sympathieträger auf der Bühne ist die Figur Graf Fontana, Riccardos Vater. Joachim Bliese präsentiert dem Zuschauer sehr glaubhaft den inneren Konflikt der Figur, die zwischen ihrem Pflichtgefühl gegenüber dem Heiligem Stuhl und der Katholischen Kirche und ihren moralischen Wertvorstellungen hin- und hergerissen ist. Doch schließlich entscheidet er sich am Ende für die richtige Seite.
Stephan von Wedel kreiert ein einfaches Bühnenbild, das im Kontrast zu den pompösen Gewänden der katholischen Oberhäupter steht. Das dunkle Bühnenbild schafft eine bedrohliche Atmosphäre und verdeutlicht die moralische Dunkelheit, in der sich die Welt im Zweiten Weltkrieg befunden hat. Die Musik von Henrik Kairies verursacht sehr häufig Gänsehaut und ein Gefühl des Ausgeliefertsein, indem er jüdische Lieder live anklingen lässt.
Es reicht nicht, nur für die Opfer zu beten, denn manchmal muss man auch entschieden für die Menschlichkeit kämpfen, was der Papst im Zweiten Weltkrieg versäumt hat. Man stellt sich im gesamten Theaterstück die Frage, wessen Stellvertreter der Papst ist – ganz bestimmt nicht von Gott und Jesus Christus, der Papst vertritt nur seine eigenen wirtschaftlichen Interessen.
Indem man aber wegschaut, macht man sich genauso schuldig und ist auch mitverantwortlich für die unzähligen barbarischen Verbrechen der Nazis.
Am Ende ertönt die Stimme des im Januar verstorbenen Jazzmusikers und Holocaust-Überlebenden Coco Schumann, der vom Ende der Deportationen berichtet. Ein beklemmendes Gefühl, das im ausverkauften Zuschauersaal zu spüren war. Nur zögerlich traute sich das Publikum zu klatschen, was aber dann am Ende in tosenden Applaus für die begnadeten Darsteller überging.
Mein Fazit: Trotz der Schwere des Themas fesselt das Theaterstück bis zur letzten Minute und obwohl man weiß, was (nicht) passiert, bleibt es bis zum Ende spannend. Dem Schlosspark Theater gelingt mit der Aufführung dieser legendären Geschichte und dem hervorragend ausgesuchten Cast ein Coup, der so aktuell wie nie zuvor ist. Wegschauen macht einen genauso schuldig wie das aktive Handeln gegen Minderheiten. Das Must-See auf den Berliner Theaterbühnen!
Weitere Informationen:
Text © E. Günther
Fotos  © DERDEHMEL / Urbschat